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Vollständige Zeiterfassung ist nach BAG bereits gesetzlich Pflicht

14. September 2022

Vollständige Zeiterfassung ist nach BAG bereits gesetzlich Pflicht

Die Entscheidung, BAG v. 13.09.2022 - 1 ABR 22/21

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Beschluss vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21) den Antrag eines Betriebsrates zurückgewiesen, ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zu gewähren. Diese Zurückweisung als solche ist eher unspektakulär, ihre Begründung indes birgt Sprengkraft: Das Initiativrecht stand dem Betriebsrat nämlich laut BAG deshalb nicht zu, weil die Pflicht zur vollständigen Zeiterfassung gesetzlich bereits geregelt ist. § 87 Abs. 1 BetrVG steht unter dem Vorbehalt, dass eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht bestehe. Das Bundesarbeitsgericht sieht eine solche bereits bestehende gesetzliche Regelung, wonach der Arbeitgeber die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen hat und verweist hierzu auf eine unionskonforme Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Diese Norm verpflichtet den Arbeitgeber, für eine geeignete Organisation und die erforderlichen Mittel zu sorgen, damit alle erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes getroffen werden können.

Das Erfordernis der europarechtskonformen Auslegung der deutschen Gesetzeslage zur Zeiterfassung wiederum ergibt sich aus einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 14.05.2019 (Rs. C 55/18). Dieser hatte entschieden, dass in Anwendung der EU Arbeitszeitrichtlinie eine gesetzliche Regelung, die den Arbeitgeber nicht verpflichtet, die tägliche Arbeitszeit zu erfassen, unwirksam ist. Im Umkehrschluss: Nach der Auffassung des EuGH zwingt die EU Arbeitszeitrichtlinie den Arbeitgeber dazu, jede Form der Arbeitszeit zu erfassen. Dies entspricht nicht der deutschen Gesetzeslage. Denn nach § 16 Abs. 2 ArbZG muss der Arbeitgeber nur die Arbeitszeiten erfassen, die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehen. Hiernach wären die Arbeitsvertragsparteien also im Rahmen der vereinbarten Arbeitszeit frei darin, selbst zu entscheiden, ob und wie die Vertragserfüllung dokumentiert werden soll. Nicht so unter Berücksichtigung der EuGH. Danach müssen alle Formen der Arbeit lückenlos aufgezeichnet werden.

Die Auffassung des BAG ist vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH folgerichtig. Die nur beschränkte Aufzeichnungspflicht nach § 16 Abs. 2 ArbZG erfüllt danach nicht die weitergehenden Verpflichtungen der EU Arbeitszeitrichtlinie. Der Gesetzgeber arbeitet derzeit auch bereits an einer Änderung der in Deutschland geltenden gesetzlichen Lage. Dass das BAG dem durch eine europarechtskonforme Auslegung vorgreift, war daher zu erwarten. Der näher liegende Anknüpfungspunkt wäre dabei wohl § 16 Abs. 2 ArbZG gewesen, dessen Wortlaut einer darüber hinausgehenden Verpflichtung zur Erfassung auch der Regelarbeitszeit nicht entgegensteht. Daran, dass das BAG dabei schlicht die Auffassung des EuGH umsetzt, ändert dies aber nichts.

Konsequenzen für die Praxis

In der betrieblichen Praxis wird sich vor allem in Betrieben mit Betriebsräten die Notwendigkeit ergeben, bestehende Betriebsvereinbarungen zur Vertrauensarbeitszeit oder zum Home-Office anzupassen. Nicht auszuschließen sind auch Konsequenzen auf die bisherige Rechtsprechung des BAG zur Darlegungs- und Beweislast bei der Geltendmachung von Ansprüchen auf Überstundenvergütung.

Das Ende flexibler Arbeitszeitregelungen und von Vertrauensarbeitszeit?

Ob die zu erwartende gesetzliche Regelung den Erfordernissen der Praxis entspricht, wird allerdings abzuwarten sein. Anders als bereits vielfach kolportiert, zwingt das EU-Recht nicht zu einer elektronischen Zeiterfassung (einem „Stempelsystem“) und hindert die Arbeitsvertragsparteien auch nicht daran, die nötigen Aufzeichnungen in geeigneter Form anderweitig, z.B. durch die Arbeitnehmer selber, wahrnehmen zu lassen statt durch einen fortwährend kontrollierenden Arbeitgeber. Nachdem sich die betrieblichen Realität wegentwickelt hat von Ausbeutung, Arbeitszwang bis zur Erschöpfung und fortwährenden Verletzungen der Erfordernisse des Gesundheitsschutzes und hin zu großer Flexibilität, Eigenbestimmung und damit auch der Möglichkeit der Vereinbarung von Familie und Beruf, bleibt zu hoffen, dass der deutsche Gesetzgeber Augenmaß beweisen wird. Während sich nämlich das deutsche Arbeitsrecht zunehmend mit Modellen der Vertrauensarbeitszeit, flexiblen Arbeitszeitunterbrechungen zur Gewinnung von „Quality Time mit der Familie“ und nicht zuletzt der Auflösung des festen Arbeitsortes als Antwort auch auf pandemische Lagen beschäftigt, wäre ein Rückfall in Stempelsysteme und die Verpflichtung zur arbeitgeberseitigen Kontrolle ein Rückfall in schlechtere Zeiten. Abgesehen davon, dass die Arbeitgeber hierdurch zusätzlich belastetet würden, ist festzustellen, dass auch viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer solche Kontrollmaßnahmen nicht wünschen. Im Deutschland des 21. Jahrhunderts darf den Vertragsparteien des Arbeitsvertrages durchaus mehr Eigenverantwortung und Gestaltungsfreiheit zugestanden werden.

Rechtsanwalt Dr. Stephan Osnabrügge
Fachanwalt für Arbeitsrecht und Sportrecht