Plant ein Unternehmen eine größere Anzahl an Entlassungen (die Grenzen richten sich nach der Unternehmensgröße, vgl. Kasten), ist das in § 17 KSchG geregelte Verfahren einzuhalten. Wenn hier Fehler passieren, führt das in der Regel zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen.
Innerhalb von 30 Tagen werden
entlassen. Als „Entlassung“ können auch Aufhebungsverträge und Eigenkündigungen zählen!
Werden die o.g. Grenzen erreicht, sind Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige über die bevorstehende Massenentlassung zu machen.
Außerdem müssen dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG rechtzeitig zweckdienliche Auskünfte erteilt werden und der Arbeitgeber hat ihn schriftlich insbesondere über die in § 17 Abs. 2 Nr. 1-6 KSchG genannten Umstände unterrichten. Dazu zählen unter anderem die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer und der Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen. So soll gewährleistet werden, dass die Erforderlichkeit der Massenentlassung zwischen den Betriebsparteien diskutiert und Möglichkeiten zur Vermeidung der Entlassungen beraten werden können.
Schließlich hat der Arbeitgeber nach § 17 Abs. 3 S.1 KSchG der Agentur für Arbeit gleichzeitig eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten. Dies hat nach den Vorgaben der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MRL) zu erfolgen und dient der rechtzeitigen Vorbereitung der Agentur für Arbeit auf die geplante Vielzahl von Entlassungen.
Das Bundesarbeitsgericht war bisher der Auffassung, dass ein Verstoß gegen die in § 17 Abs. 1 – Abs. 3 KSchG normierten Vorgaben weitestgehend die Unwirksamkeit der Kündigungen zur Folge hat. Allerdings enthalten weder die europäische Massenentlassungsrichtlinie noch das KSchG Regelungen zu den Rechtsfolgen eines Verstoßes. Deshalb war die Begründung des BAG bis dato auf den im Europarecht geltenden „effet-utile-Grundsatz“ gestützt worden, wonach Normen so auszulegen und anzuwenden sind, dass das Gemeinschaftsrecht möglichst effizient zur Anwendung kommt.
In einem Verfahren vor dem BAG kam es nun zu der Fragestellung, ob die Übermittlungspflicht an die Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 3 KSchG dem Schutz individueller Arbeitnehmerinteressen dient und ein Verstoß gegen die Vorschrift somit zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen muss. Der betroffene Arbeitnehmer machte geltend, dass der Agentur für Arbeit keine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat gem. § 17 Abs. 3 KSchG i.Vm. Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MRL übermittelt worden sei. Da das geltende Recht keine Regelungen dazu enthält, hatte das höchste deutsche Arbeitsgericht das Kündigungsschutzverfahren ausgesetzt und die Angelegenheit dem EuGH vorgelegt (BAG v. 27.01.2022 – 6 AZR 155/21 (A)).
Der EuGH (Urteil vom 13.07.2023 – C-134/22) entschied in dem Vorabentscheidungsverfahren zu Ungunsten der Arbeitnehmer. Der Gerichtshof ist der Auffassung, die Verpflichtung des Arbeitgebers aus § 17 Abs. 3 KSchG diene nicht dem Individualschutz der von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer. Vielmehr erfolge die Zuleitung der Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit die Bundesagentur für Arbeit gegebenenfalls ihre weiteren Befugnisse wirksam ausüben kann.
Der EuGH führt aus: In Anbetracht des Zwecks dieser Informationsübermittlung und der Tatsache, dass sie in einem Stadium erfolgt, in dem der Arbeitgeber die Massenentlassungen nur beabsichtigt, soll sich die zuständige Behörde nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern die beabsichtigten Massenentlassungen allgemein betrachten. Daraus folgt, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie den Arbeitnehmern einen kollektiven und keinen individuellen Schutz gewährt. Trotz Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 KSchG ist die Kündigung deshalb wirksam.
Die Entscheidung des EuGH sorgt für erfreuliche Rechtsklarheit. Es ist davon auszugehen, dass das BAG seine Rechtsprechungspraxis ändern wird und ein Verstoß gegen die Zuleitungspflicht nicht mehr die Unwirksamkeit von Kündigungen nach § 134 BGB i.V.m. § 17 KSchG rechtfertigt. Während die Entscheidung des EuGH die Rechtsstellung von Arbeitnehmern, die von einer Massenentlassung betroffen sind, schwächt, dürften Arbeitgeber die Entscheidung begrüßen. Diesen wurde eine Hürde im komplizierten Massenentlassungsverfahren genommen. Außerdem stellt sich nun wohl auch nicht mehr die Frage, ob die Zuleitung der Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat an die Agentur für Arbeit dem Wortlaut des § 17 Abs. 3 KSchG „gleichzeitig“ entsprechend noch am selben Tag erfolgen muss.
Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht Inga Leopold und stud. iur. Maike Usadel
Kurt-Schumacher-Str. 22
53113 Bonn
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